Ce qui se passe vraiment, ce que nous vivons, le reste, tout le reste, où est-il ? Ce qui se passe chaque jour et qui revient chaque jour, le banal, le quotidien, l‘évident, le commun, l‘ordinaire, l‘infra-ordinaire, le bruit de fond, l‘habituel, comment en rendre compte, comment l‘interroger, comment le décrire?
Georges Perec, “Approches de quoi?”

Im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts am Institut für Romanistik der Universität Wien (Leitung: Dr. Benjamin Loy) setzen sich Studierende der französischen Literaturwissenschaft mit den Praktiken der literarischen Raum- und Zeitbeobachtung im Werk George Perecs auseinander. Dabei entstehen im Seminar u.a. Kurztexte auf Deutsch und Französisch, die auf die von Perec zwischen 1969 und 1975 in seinem Projekt Lieux erprobten Verfahren zurückgehen und den Wiener Stadtraum dokumentieren und schrittweise auf dem folgenden Blog publiziert werden:
Die Ausgangsidee
Wenige Autor*innen der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts haben sich auf eine so experimentelle Art und Weise mit der Frage beschäftigt, inwiefern Literatur als Medium einer Reflexion und Dokumentation unserer Wahrnehmung von Zeit und Raum fungieren kann, wie Georges Perec (1936-1982). Im Rahmen eines experimentell angelegten Lehrforschungsprojekts am Institut für Romanistik der Universität Wien setzt sich im Sommersemester 2023 eine Gruppe von 25 Studierenden mit Perecs narrativen und essayistischen Texten und der Frage auseinander.
Dabei interessiert uns, inwiefern literarische Texte als Formen einer ästhetischen Modulierung von „Eigenzeiten“ (bzw. “Eigenräumen”) gelesen werden können, welche sich kritisch mit innerhalb einer Gesellschaft postulieren Normen von Zeit und Raum auseinandersetzen können.
Das Werk Perecs bietet sich dafür aus mehreren Gründen an: Einerseits situiert es sich historisch in den 1960er und 70er Jahren im Kontext des französischen ‚Wirtschaftswunders‘ der Nachkriegszeit (der “Trente glorieuses”) und damit in einer Phase eines ausgeprägten Modernisierungs- und Beschleunigungsdiskurses, den es – insbesondere mit Blick auf die “grands travaux” im Pariser Stadtgebiet – kritisch betrachtet; andererseits arbeitet es mit experimentellen und autobiographischen Schreibweisen der Raum- und Zeiterfahrung, die insbesondere Phänomene der Langsamkeit und der Entschleunigung als Teil des literarischen Schreib- und Leseprozesses selbst integrieren.
Das Seminar diskutiert zudem, wie Perecs Werk sich auch für eine kritische Reflexion gegenwärtiger Formen von Zeitwahrnehmung und Mediengebrauch fruchtbar machen lässt. Im Anschluss an Perecs ‘Experimentalpoetik’ produzieren die Studierenden des Seminars eigene Texte zur Zeit- und Raumwahrnehmung , in denen Dimensionen gegenwärtigen Medienkonsums und Formen von Welt- und Alltagswahrnehmung im Ausgang von Perecs Überlegungen zum “infra-ordinaire” reflektiert werden.
Perecritures (viennoises) – die Texte
In kreativer Auseinandersetzung mit Perecs Praktiken der literarischen Raum- und Zeitbeobachtung entstehen im Seminar Kurztexte auf Deutsch und Französisch, die auf die von Perec zwischen 1969 und 1975 in seinem Projekt Lieux erprobten Verfahren zurückgehen. In Lieux hat Perec den Plan verfolgt, insgesamt 12 Pariser Orte über (eigentlich) 12 Jahre hinweg regelmäßig zu besuchen, um somit eine an den Stadtraum gebundene Dokumentation der Langzeitveränderung zu schaffen, die zugleich eine stark autobiographische Dimension beinhaltete.
En 1969, j’ai choisi, dans Paris, 12 lieux (des rues, des places, des carrefours, un passage), ou bien dans lesquels j’avais vécu, ou bien auxquels me rattachaient des souvenirs particuliers. J’ai entrepris de faire, chaque mois, la description de deux de ces lieux. L’une de ces descriptions se fait sur le lieu même et se veut la plus neutre possible : assis dans un café, ou marchant dans la rue, un carnet et un stylo à la main, je m’efforce de décrire les maisons, les magasins, les gens que je rencontre, les affiches, et, d’une manière générale tous les détails qui attirent mon regard. L’autre description est fait dans un endroit différent du lieu : j m’efforce alors de décrire le lieu d mémoire, et d’évoquer à son propos tous les souvenirs qui me viennent, soient des événements qui s’y ont déroulé , soit de gens que j’y ai rencontrés. Lorsque ces de descriptions sont terminées , je les glisse dans une enveloppe que je scelle à la cire.
Georges Perec, Espèces d’Espaces, p. 108
Dazu dachte sich Perec eine zweiteilige Grundstruktur aus, die als Ausgangspunkt für die Textexperimente im Seminar genutzt wird: Die eine Hälfte des Projekts umfasste das Aufsuchen bestimmter Straßen und Plätze in Paris, an denen Perec unter dem Stichwort „réels“ alles notierte, was er in einem bestimmten Zeitraum dort (meist von einem Platz in einem Bistrot oder Café aus) beobachten und hören konnte – von den Menschen und ihren Gesprächen über die Elemente des Stadtraums (Geschäfte, Plakate, Straßennamen, etc) bis hin zu anderen, oft übersehenen Details des Alltags. Diese Dokumentation zielte vor allem auf die möglichst umfassende Erfassung aller Details der Beobachtungssituation ab, wenngleich diese bisweilen durch bestimmte persönliche Kommentare und Reflexionen ergänzt wurden.
Die zweite Hälfte der Texte wiederum verhandelte unter dem Stichwort „souvenirs“ persönliche Erinnerungen Perecs, die er mit den jeweiligen Orten verband. Diese Texte beinhalteten Reflexionen und Ausführungen zur Begegnung mit bestimmten Personen an diesen Orten in unterschiedlichen Lebensphasen, aber auch weiterführende Überlegungen zu künstlerischen, gesellschaftlichen oder politischen Fragen.
Das Blog publiziert die an Perecs Experimentalprojekt orientierten Texte des Lehrforschungsprojekts in Wien im Jahr 2023, alle Text- und Bildrechte liegen bei den jeweiligen Verfassenden (selbstverständlich auch dort, wo diese anonym publizieren).